In meinen Ausbildungen und Kursen spreche ich oft davon, dass man für jemanden den Raum hält.
Aber was verbirgt sich eigentlich hinter dieser Aussage? Was ist “Raum halten” und wie macht man es richtig?
Darauf will ich in diesem Blogbeitrag eingehen.
Das Wichtigste zuerst: Es gibt ganz unterschiedliche Arten von “Raum halten” und es ist auch ein grosser Unterschied, ob du es bewusst machst oder nicht.
Den meisten Menschen passiert es ganz unbewusst, dass sie den Raum halten. Stell dir vor, du sitzt mit einer Freundin im Garten und trinkst einen Tee. Ihr plaudert gemütlich, doch plötzlich öffnet sich deine Freundin und erzählt dir von einem grossen Problem, das sie gerade in ihrem Leben hat. Vielleicht hat sie Schwierigkeiten mit ihrem Boss oder mit jemandem aus ihrer Familie. Auf jeden Fall hat sie das Bedürfnis, mit dir darüber zu sprechen und ihre Sorgen mit dir zu teilen. Vielleicht wird sie auch emotional und muss Wut oder Trauer loswerden.
Du hast nun verschiedene Möglichkeiten, auf ihre Erzählung zu reagieren. Eine Möglichkeit ist es, dass du kurz zuhörst und dann versuchst, etwas von dir zu erzählen. Du wartest dabei eigentlich einfach so lange, bis du reingrätschen kannst und dann erzählst du, was dich gerade beschäftigt. Das ist ein Verhalten, das sehr viele Menschen machen und in unserer Zeit ist es (leider) ganz normal geworden, dass Gespräche so ablaufen.
Aber was passiert dabei? Die Menschen kommen nicht mehr in eine wirkliche Tiefe und in eine echte Verbindung in ihren Beziehungen. Es bleibt dann immer ein wenig an der Oberfläche und das absolute Vertrauen und die ultimative Hingabe bleiben aus.
Bewusst den Raum halten
Das muss aber nicht sein. Du kannst nämlich auch anders reagieren und viele hochsensible Menschen machen das ganz unbewusst. Es passiert ihnen einfach. Du kannst nämlich deiner Freundin einfach den Raum halten. Das heisst, dass du dich wirklich mit ihr verbindest. Dass du ihr aufmerksam und achtsam zuhörst, aber ohne sie so rasch wie möglich unterbrechen zu wollen und ohne ihr sofort deine Sicht der Dinge aufzudrängen. Vielleicht fasst du sie an der Hand oder an der Schulter, wenn sie emotional wird. Vielleicht wiederholst du zwischendurch ein Wort, das sie gesagt hat, damit sie weiss, du bist wirklich aufmerksam - aber du drängst ihr nichts auf und du lässt ihr den Raum, damit sie ihren Prozess machen kann. Dabei geht es darum, wirklich aufmerksam zu sein. Wenn du einfach zuhörst, aber in Gedanken ganz woanders bist und eigentlich gar nicht wirklich anwesend, dann hat das natürlich nicht die gleiche Qualität, wie wenn du voll da bist und dich wirklich für das interessierst, was deine Freundin dir erzählt hat.
Wichtig dabei ist, dass du wirklich einfach zuhörst und deine Freundin reden lässt. Wenn sie dann alles gesagt hat, was ihr auf der Seele brennt, kannst du anfangen, Fragen zu stellen, um ihr zu zeigen, dass du ihr aufmerksam zugehört hast und dass du interessiert daran bist, mehr zu wissen.
Wenn du den Raum halten möchtest, dann musst du vor allem zwei Dinge aushalten können:Erstens musst du auch Phasen der Stille in einem Gespräch aushalten können und zweitens dem Drang widerstehen, den Raum sofort für dich zu beanspruchen.
Den Raum halten - oft passiert das ganz natürlich
Es kann gut sein, dass du selbst auch schon für jemand anderen den Raum gehalten hast, denn oft machen wir das in unserem Alltag ganz selbstverständlich. Da ist die Mutter, die ihre Tochter nach der Schule in Empfang nimmt und ihr in aller Seelenruhe zuhört, während diese ihrer Wut über die (ihrer Meinung nach) ungerechtfertigte Note in ihrer Mathearbeit lautstark Luft macht. Oder der Mann, der verständnisvoll dem Liebeskummer seines besten Freundes lauscht, ohne diesen gleich mit wohlmeinenden Tipps zuzutexten.
Vielleicht hast du es auch schon einmal erlebt, dass du jemanden neu kennen lernst und du erzählst dieser Person aus irgendeinem Grund ganz viel von dir? Und im Nachhinein fragst du dich: “Warum habe ich der Person das jetzt alles erzählt?” Das passiert immer dann, wenn Menschen eine ganz natürliche Begabung dafür haben, jemandem den Raum zu halten.
Daraus können sich übrigens auch ganz seltsame Situationen ergeben. Es ist beispielsweise möglich, dass du dann zu einem Therapeuten gehst und dieser plötzlich anfängt, auf dich einzureden und dir von seinem Leben zu erzählen. Das geschieht eben immer dann, wenn du ganz selbstverständlich den Raum hältst. Das ist aber natürlich nicht immer gut und du darfst sehr achtsam lernen, wann du Grenzen setzen möchtest und wann du eben gerne dafür da bist, dein offenes Ohr und dein Mitgefühl zur Verfügung zu stellen für andere Menschen.
Wie kannst du lernen, den Raum zu halten?
Ich bin mir sicher, du willst nicht lesen, was ich jetzt schreibe, aber du musst Geduld mit dir haben und üben. Ja klar, es gibt Menschen, die den Raum scheinbar einfach so halten können. Oft ist das aber ein Verhalten, das in der frühen Kindheit schon antrainiert wurde und ein Stück weit das Überleben gesichert hat für das damals hilflose Kind. Für diese Menschen ist es als Erwachsene oft ganz schwierig, den Raum auch einmal einnehmen zu können, dazu später mehr.
Aber wenn du sagst, ich will lernen, den Raum für meine Liebsten zu halten, dann fang an zu üben. Das Bewusstwerden, dass du den Raum halten willst, ist der erste Schritt. Achte einfach im nächsten Gespräch darauf, dass du den Fokus ganz bewusst bei deinem Gegenüber lässt. Das heisst, du lässt ihn einfach erzählen und hörst aktiv zu. Du hältst den Blickkontakt und achtest selbstverständlich auch auf die Körpersprache von deinem
Gegenüber. Du nickst und wiederholst mal ein Wort, damit er weiss, du hörst zu, aber du sagst nichts. Wenn er geendet hat mit der Erzählung, kannst du das Gesagte zusammenfassen und Nachfragen dazu stellen, aber deine Gedanken und Lösungsvorschläge bleiben bei dir.
Du nimmst dein Gegenüber und seine Gefühle einfach nur wahr, ohne daran etwas verändern zu wollen. Du bist da und begleitest, aber deine eigene Meinung hat in diesem Moment im Raum nichts zu suchen.
Raum einnehmen lernen
Einige Menschen halten ihrem Umfeld sehr natürlich den Raum. Oft haben sie das schon in früher Kindheit lernen müssen, zum Beispiel, weil sie aus einer dysfunktionalen Familie stammen. Diesen Menschen fällt es dann als Erwachsene sehr oft unbeschreiblich schwer, den Raum für sich selbst einzunehmen. Wer aber immer für andere da ist, der darf sich selbst nicht auf der Strecke stehen lassen, denn jeder braucht einmal ein offenes Ohr von seinem Gegenüber.
Und wie immer geht es auch hier um das Lernen, das Üben und die Achtsamkeit.
Der erste Schritt um zu lernen, mehr Raum einzunehmen ist, zu erkennen, dass du eben immer für andere den Raum hältst, ihn für dich selbst aber nur selten einnimmst.
Reflexion kann dir helfen.
Frage dich, wo nehme ich mir den Raum und wo hätte ich gerne mehr Raum? Du darfst dir auch gerne die Frage stellen: Warum nehme ich mich zurück und gestatte es mir nicht, meine Bedürfnisse anzubringen? Daran kannst du dann arbeiten. Vielleicht brauchst du tiefes Vertrauen in einen anderen Menschen, um dich fallen lassen zu können? Es könnte auch sein, dass es dir generell schwer fällt, die Kontrolle abzugeben. Das sind dann wunderbare Erkenntnisse, mit denen du arbeiten kannst und mit denen du in eine Harmonie und Heilung mit deinem Leben kommst.
Eine weitere Methode, zu üben, den Raum einzunehmen, ist folgende:
Triff mit einer Freundin die Abmachung, dass du einfach einmal für zehn Minuten sprechen darfst und sie hört einfach nur zu, sagt nichts, sondern nimmt dich ganz einfach an, mit dem, was du zu erzählen hast. Das kann am Anfang ganz schön schwierig sein, aber so lernst du, den Raum einzunehmen (und sie lernt ganz nebenbei, ihn zu halten).
Ich finde es wichtig, dass man immer eine gesunde Balance zwischen Geben und Nehmen hat. Und es ist auch nicht schlimm, wenn du den Raum nicht so gut halten kannst, denn nicht jeder hat dafür ein Talent. Aber wenn du lernen es möchtest, dann kannst du es verbessern und trainieren.
Ich bin gespannt zu lesen, ob du eher jemand bist, der den Raum hält oder ob du jemand bist, der eher den Raum nimmt. Denke daran: Beides ist gut und beides ist richtig. Es braucht immer eine Balance und einen Ausgleich. So, wie du bist, bist du perfekt und genauso solltest du auch sein.
Alles Liebe,
Marisa