Wenn ich mich in meiner Community umschaue, dann gibt es kaum Menschen, denen niemals ein Unrecht angetan worden ist. Praktisch alle von uns haben schwierige, herausfordernde und traumatisierende Erfahrungen gemacht. Und an vielen dieser Erfahrungen waren andere Menschen beteiligt. Menschen, die es nicht gut mit uns meinten und uns auf irgendeine Form missbraucht haben. Aber auch Menschen, die einfach nicht achtsam und aufmerksam waren und nicht bemerkt haben, dass sie uns mit ihren Handlungen und Worten verletzt haben.
Doch was machen wir nun mit diesen Menschen? Was ist aus spiritueller Sicht der „richtige“ Weg, um mit den Menschen umzugehen, aufgrund derer wir gelitten haben? In vielen spirituellen Kreisen wird davon gesprochen, dass man verzeihen oder vergeben muss. Dass alles seinen Sinn hatte und uns bei unserer Entwicklung weiter geholfen hat und wir darum unbedingt verzeihen sollten, ja sogar müssen.
In diesen Kreisen heisst es dann, dass nur dieses Verzeihen uns frei macht und wir dadurch unsere spirituelle Entwicklung voran bringen. Es heisst, dass uns nur das Vergeben wirklich frei macht und für unser Seelenheil sorgt.
Nun ja.
Ich bin - wie du vielleicht aus diesen Worten bereits ein wenig lesen kannst - nicht ganz der Meinung.
Ich will versuchen zu erklären, warum und auch, was meiner Meinung nach der bessere Weg ist.
Warum ist das Verzeihen so wichtig?
Auf der einen Seite haben diese spirituellen Ansichten schon recht: Verzeihen ist wirklich wichtig für deine spirituelle Entwicklung und es ist auch elementar für dich. Denn was passiert, wenn du auf altem Groll und alter Verletzung sitzen bleibst?
Du wirst dich in einer Art von innerem Gefängnis fühlen, aus dem du nicht ausbrechen kannst. Du hast eine solche Angst vor weiteren Verletzungen und Enttäuschungen, dass du dich nicht mehr wirklich auf neue Beziehungen einlässt. Und irgendwie immer erwartest, dass du von allen Menschen gleich behandelt wirst. Nämlich nicht liebevoll und nicht mit dem Respekt, den du verdient hast. Aber damit bist du eben in diesem Gedankengefängnis gefangen. Du lebst dann dein Leben nicht frei, offen und freudvoll. Du bist dann irgendwie immer mit innerem Groll und den Verletzungen verbunden, die du in deinem Leben erfahren hast. Und nicht mit deiner Lebensfreude.
Das ist nicht nur für deine Seele nicht das, was sie sich gewünscht hat, sondern kann auch für deine psychische Gesundheit wirklich herausfordernd sein. Dein Fokus ist dann immer auf die Vergangenheit und das Negative gerichtet. Und nicht auf die Zukunft und das, was du dir an Freude, Licht und Leben erschaffen könntest.
Doch, warum erkläre ich jetzt, dass Verzeihen so wichtig ist, wenn ich doch nur ein paar Zeilen weiter oben gesagt habe, dass ich der Meinung bin, verzeihen sei gar nicht so wichtig?
Verzeihen ist sogar extrem wichtig. Die Frage ist nur: Wem?
Wenn ich meine Klienten in ihrer Vergebensarbeit unterstütze, dann ist mein Fokus niemals auf den Menschen, die die Verletzung verursacht haben, sondern immer nur auf meinem Klienten. Wenn du nämlich vergeben möchtest, wenn du in die Verzeihung gehen möchtest, dann sollte dein ganzer Fokus nur auf dir alleine liegen.
DU bist der Mensch, dem du verzeihen solltest. DU bist der Mensch, mit dem du die Vergebensarbeit machen solltest.
Der einzige Mensch, der in deinem Leben immer bei dir sein wird, jeden Moment deines Lebens mitbekommt und Zeuge von allem ist, was du erlebst, das bist du. Und darum solltest du immer und jederzeit die wichtigste Person in deinem Leben sein. Die Person, auf der dein liebevoller Fokus gerichtet ist und der Mensch, um den sich deine Vergebungsarbeit drehen sollte, das bist du. Und ich meine das nicht im Sinne von: Werde egoistisch und kümmere dich nur noch um dich selbst. Ich meine es im Sinne von: Beginne dich selbst liebevoll zu betrachten und überschütte dich mit Selbstmitgefühl. Du hast es dir verdient.
Ja, es stimmt, du hast in deinem Leben schwierige Dinge erlebt. Gehe mit dir selbst in die Vergebung. Gehe in die Verzeihungsarbeit damit, dass du Entscheidungen getroffen hast - bewusst oder unbewusst - die dich in diese Situation geführt haben. Wenn du nämlich dir selbst verzeihst, sind die anderen Menschen, die an dieser Situation beteiligt waren, nicht mehr ganz so wichtig.
Aber warum finde ich jetzt eigentlich, dass verzeihen überbewertet wird?
Ich habe schon von vielen Menschen gehört, dass man verzeihen MUSS, um befreit und entspannt leben zu können. Das sind dann Menschen, die auch Dinge verzeihen, die unverzeihlich sind. Und es sind Menschen, die zwar aus dem Kopf heraus verzeihen, aber nicht wirklich aus dem Herzen.
Aber was soll daran gut sein? Was ist der Sinn darin, „so zu tun“, als würde man etwas verzeihen, was unverzeihlich ist? Zum Beispiel einen jahrelangen Missbrauch. Was ist der Sinn darin, jemandem zu vergeben, der etwas gemacht hat, dass man eigentlich nicht vergeben kann? Diese Art von Vergebungsarbeit ist in den meisten Fällen nicht wirklich hilfreich, weil sie eher etwas überdeckt, als tatsächlich etwas aufräumt. Das Trauma wird dann nicht wirklich be- oder verarbeitet, sondern einfach verdrängt. Und das oft mit einer Art toxischen Positiviät. Ein Thema, über das ich auch schon geschrieben habe. Du findest den Beitrag hier: Der Unterschied zwischen einer positiven Lebenseinstellung und toxischer Positivität
Mein Vorschlag ist ein anderer:
Wie wäre es, wenn du versuchen würdest, Verständnis für die andere Person zu entwickeln. Verständnis für die Lebensumstände und die Lebensgeschichte dieser Person. Vielleicht gewinnst du dadurch ein bisschen Harmonie oder ein wenig Klarheit darüber, warum sie sich dir gegenüber benommen hat, wie sie sich benommen hat. Und wenn du genau gelesen hast, hast du sicher bemerkt, dass ich geschrieben habe: „versuchen würdest“ und nicht „versuchst“.
Ich würde dir niemals empfehlen oder befehlen, etwas Bestimmtes zu tun, in deiner eigenen Reise des Verzeihens. Denn es ist deine Reise und dein Weg. Du fühlst selbst am Besten, ob gerade eine Phase ist, in der du Verständnis für dein Gegenüber hast oder ob es eine Phase ist, in der du wütend bist, zornig, traurig oder einfach nur resigniert. All diese Gefühle sind okay. All diese Gefühle sind richtig. Es sind deine Gefühle und weil es deine Gefühle sind, können sie niemals falsch sein.
Und wenn das bedeutet, dass du auf keinen Fall in die Verzeihung gehen möchtest, dann ist das für dich der richtige Weg. Und unsere Aufgabe als Aussenstehende ist es, deinen Weg zu akzeptieren und dich auf deinem Weg so gut es geht zu unterstützen.
Das Einzige, was ich an dieser Stelle vorschlagen möchte, ist Folgendes:
Gebe deinen Gefühlen nach, sei wütend, traurig, deprimiert, zornig etc. Aber achte dabei immer darauf, wie es dir geht. Nimm diese Gefühle an und gehe damit in die Verbindung mit dem Selbstmitgefühl. Schaue ganz genau hin und überprüfe, ob deine Wut nur auf die Person im Aussen gerichtet ist. Oder ob es eine Wut ist, die auf dich selbst gerichtet ist.
Und in dem Moment, in dem du bemerkst, dass es eine autodestruktive Wut ist, solltest du etwas verändern. Dann darfst du wieder intensiv in die Vergebungsarbeit gehen. In die Verzeihung mit dir selbst. Denn dann hast du die nächste Phase erreicht in deinem Prozess und es ist Zeit, die nächste Zwiebelschicht abzuschälen und in die Versöhnung mit dir zu gehen. Denke daran: Es geht dabei um dich und darum, dass du ein glückliches Leben führen kannst, in dem du dir selbst gegenüber positiv und liebevoll bist.
Was empfehle ich als Versöhnungsarbeit mit dir selbst?
Die Versöhnungsarbeit kann ein langer Prozess sein und erfahrungsgemäss wirst du nicht einfach nur eine Arbeit machen, sondern viele unterschiedliche Dinge. Dazu gehört vielleicht auch eine klassische Psychotherapie, denn diese kann dir oft helfen, deine Geschichte zu reflektieren. Ich finde Reflexionsarbeit extrem hilfreich und wichtig.
Daneben habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht mit Rückführungstherapie, wenn du einen Therapeuten hast, der sein Handwerk wirklich versteht. Das gleiche gilt für das Familienaufstellen oder besser noch, das systemische Stellen.
Wunderbar finde ich auch alle Arten von Ahnen- und Auflösungsarbeit. Weil wir dabei die Dinge oft bei der Wurzel packen und wirklich loslassen können. Gerade in der Ahnenarbeit begleite ich meine Klienten oft weit, weit zurück in ihrer Ahnenlinie, so dass wir richtig tiefgreifende Transformationen durchleben können.
Und dann hilft natürlich jede Art von somatischer Arbeit - Körperarbeit - sehr bei der Versöhnungsarbeit und bei der Auflösung von Trauma aus dem Körper. Denn das Trauma sitzt ja gerne im Körper und will nicht nur mit dem Kopf verstanden werden, sondern auch aus dem Körper gelöst.
Und dann ist für mich natürlich die Arbeit mit dem inneren Kind, dem inneren Kritiker oder auch dem inneren Saboteur etwas Wunderbares, was ich sehr, sehr empfehlen kann. Ich liebe es, mit Ritualen und Energien zu arbeiten und wirklich intensiv in diese Arbeit einzutauchen. Gerade die Arbeit mit dem inneren Kind ist in der Versöhnungsarbeit unabdingbar und ein wahres Juwel in dieser Art von Selbstannahme.
Magst du mir in den Kommentaren erzählen, womit du Erfolg hast, wenn es um die Versöhnung mit dir selbst geht?
Alles Liebe,
Marisa
Hallihallo
Für den Erfolg bei der Versöhnung mit mir selbst hilft mir der Kontakt mit meinem früheren Ich.. Oder mein inneres Kind/Jugendliche (fühlen und als “Erwachsene” Halt geben) und ganz klar auch das “Analysieren und Erklärung finden für mein Verhalten sowie das Verhalten des Gegenübers”
Und ich weiss meine Reise geht immer weiter, bin neugierig immer mehr zu lernen und immer mehr zu heilen (mich selbst und damit alles was ist)
Danke für deine Inspiration (ich freue mich, dass auch Schweizer aktiv energetisch arbeiten..)
Lg Rahel vom Appenzellerland